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VON DER IRRITATION DES SEHENS.
Peter Holls Fabelhafte Aquarelle.
Text von Christian Skirke
"Gestern war heute morgen", der Titel dieses Katalogs und der
von dannunddann an der Kunstakademie Stuttgart stattfindenden Ausstellung
von Peter Holls aktuellen Arbeiten, ist ein mehrdeutiger Satz. Man könnte
- zugegebenermaßen ein wenig holpernd - von einem semantischen
Vexierbild sprechen. Vexierbilder verblüffen, indem sie zu einem
Perspektivenwechsel zwingen, und erstaunlich ist der Satz "gestern
war heute morgen" allemal. Zum einen macht "gestern war heute
morgen" aus dem Blickwinkel des "Heute" die eigentümliche
Aussage, daß wir gestern noch vom heutigen Tag als "morgen" sprachen.
Anlässe zu dieser Feststellung sind gewiß selten, obwohl sie
banal ist und auf jeden beliebigen Tag zutreffen würde. Verblüffend
ist auch die zweite Lesart: mit Akzent auf "gestern" sagt der
Satz "gestern war heute morgen", daß der gestrige Tag
uns immer noch so nahe ist wie der heutige Vormittag. Hier ist der Effekt
umgekehrt. Weshalb wollen wir "gestern" so ausdrücklich
gegen den Fluß der Zeit wieder an uns heranholen, daß unser
Wunsch im Indikativ steht? Vielleicht gibt es aber noch eine dritte Deutung,
in der gestern, heute und morgen inniger verschränkt sind. Denn
das herkömmliche Vexierbild zerfällt unwiderruflich in dem
Augenblick, in dem man es entschlüsselt und zum ersten Mal seine
Aspekte getrennt voneinander wahrnimmt. Sein Reiz verflüchtigt sich
so schnell wie die Aufregung über eine gelöste Denksportaufgabe.
Ist es irgendwie denkbar, daß das verblüffende Moment, das
exemplarisch in "gestern war heute morgen" hervortritt, seiner
Zersetzung durch den Blick, durch die Kombinationslust des Betrachters
widersteht?
Ich werde diesen Faden erst am Ende dieser Einführung wieder aufnehmen,
dann natürlich mit Bezug auf Peter Holls Kunst. Denn viele der Arbeiten,
die in diesem Katalog versammelt sind, könnten als Vexierbilder
interpretiert - und wie ich meine: mißverstanden - werden. Zunächst
ist jedoch wichtig, daß Peter Holl einen bestimmten Vorrat an Motiven
in einer auffälligen Technik, dem großformatigen Aquarell,
behandelt. Deshalb ist der erste Teil dieses Textes diesem gemeinsamen
technischen Gesichtspunkt gewidmet. Der zweite Teil ist ein Kommentar
zu ausgewählten Motiven und Motivgruppen.
Als Maltechnik ist Aquarell
einfach, selbst wenn sie so virtuos zur Anwendung kommt wie in den
hier versammelten Bildern. Wasserlösliches Pigment wird mit dem Pinsel
auf Papier aufgetragen und hält im Antrocknen den Gestus des Pinselstrichs
fest. Farbschichten legen sich wie dünne Filme vor die helle Oberfläche
des Papiers. Licht durchdringt das getrocknete Pigment und wird vom Papier
durch diese verschiedenen Schichten bunt zurückgeworfen. Im Gegensatz
zur schweren Materialität eines Ölgemäldes sind Licht
und Transparenz die Grundstoffe des Aquarells.
Peter Holls erste Versuche mit diesem Vokabular haben folgerichtig
und auf pointierte Weise Licht und das im Licht Sichtbare zum Gegenstand.
In den 1999 entstandenen Aquarellen "Zimmerpflanze" und "Leere
Becher" sind Mobiliar und Gebrauchsgegenstände lose um eine
künstliche Lichtquelle herum arrangiert. Der quadratische Schnitt
des Papiers und die eingeschriebene Kreisform des eigentlichen Bildes
verleihen diesen lockeren Inszenierungen alltäglicher Objekte allerdings
eine eigentümliche Strenge. Durch die Kombination geometrischer
Primärformen wird unser Blick gewissermaßen gebündelt.
Allerdings schauen wir nicht durch ein Okular auf die kleine Szene. Der
kreisrunde Bildausschnitt wird nicht von einer äußeren Maske
bestimmt. Sonst müßte das umschreibende Quadrat schwarz sein.
Es ist aber weiß, genauso wie die Lichtquelle, die der hellste
Punkt im eigentlichen Bild ist, und die hellste Farbe im Aquarell ist
die Farbe des Papiers. Insofern wird der Zirkel von Alltagsgegenständen
vom Leuchten der Lampe selbst eingefaßt. Also sehen wir in "Zimmerpflanze" oder "Leere
Becher" eigentlich keinen Ausschnitt. In diesen Bildern ist nichts
verdeckt oder gar versteckt. Nichts an der kleinen Szene ist geheimnisvoll,
so daß wir sie nur durch ein Schlüsselloch oder durch einen
Türspion betrachten dürften, um sie nicht zu stören oder
um uns nicht zu verraten. Der Zirkel dieser Gegenstände wird erst
durch das Licht der Lampe sichtbar. Gleichzeitig wird die Lichtquelle
selbst doppelt abgebildet: als ein weiterer Gegenstand im Kreis dieser
Gegenstände und, hintergründiger, als Leuchten ohne Gegenstand
im umschreibenden Quadrat. In "Zimmerpflanze" und "Leere
Becher" führt Peter Holl Aquarell als eine besondere Technik
des Sichtbaren ein.
Schichtungen und Überlappungen verdichten das Aquarell und intensivieren
Sichtbares [1]. Peter Holl stellt diesen Effekt in den Dienst eines raffinierten
optisch-malerischen Verfahrens, das den meisten hier gezeigten Arbeiten
zugrunde liegt. Lifestyle-Magazine und verwandte Publikationen appellieren
mit aufwendig choreografierten Fotostrecken an das Auge des Lesers. Peter
Holl wählt aus diesen Fotostrecken einzelne Seiten aus. Auf einer
Glasscheibe aufgespannt und von hinten durchleuchtet, werden Vorder-
und Rückseite dieser Blätter als Schichten eines einzigen Bildes
sichtbar. Der Effekt dieser Überschneidungen oder Interferenzen
wird durch sorgfältige Auswahl der Vorlagen gesteuert. Geometrische
Affinitäten und thematische Assoziationen, die zwischen Vorder-
und Rückseite der Vorlage spielen, scheinen neben malerisch interessanten
Interferenzeffekten und dem Humor mancher Zusammenstellungen eine wichtige
Rolle bei der Selektion zu spielen (siehe "Zweite Heimat", "Millennium").
Entscheidend ist jedoch, daß diese Bilder kein Vorbild im wörtlichen
Sinne haben. Diese in der Durchleuchtung hervorgebrachten Bilder verfestigen
sich nur im gemalten Bild. Auch die Mattscheibenprojektion wird unsichtbar,
sobald das Licht erlischt. Erst die Malerei und besonders das Aquarell
erlaubt, Schicht für Schicht zu protokollieren und zu interpretieren,
was in diesen durchleuchteten Bildern sichtbar wird oder ist.
Intensiv werden diese Schichtungen etwa in den sich durchdringenden
Faltenwürfen
von Kleidungsstücken, in den sich überlagernden Glanzlichtern
auf Schmuckstücken oder in den unwahrscheinlich verflochtenen
Frisuren, die entstehen, wenn Vorder- und Rückseite einer Vorlage
auf dieselbe Seite des Aquarellpapiers transponiert werden. Schließlich
ist das von Peter Holl verwendete optisch-malerische Verfahren nicht
mechanisch.
Die Übertragung eines durchleuchteten Bildes auf das Aquarellpapier öffnet
einen Interpretationsspielraum, dessen Weite malerisch durchmessen
werden kann. Manche der Bilder tragen deutliche Spuren ihrer Vorlagen,
etwa
eine kontrastreichere Darstellung der Vorderseite im Vergleich zur
Rückseite.
In einigen wird sogar der optische Effekt der Durchleuchtung bis ins
Detail des Lichtkreises der Projektionslampe akribisch nachvollzogen.
Wie komplex sich die Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren des
gemalten Bildes trotz dieser augenscheinlich getreuen Abbildung des
Durchleuchtungs-effektes gestalten können, läßt sich
beispielsweise an "Ewige
Nachbarn" (2000) zeigen. Obwohl unterschiedliche Farbsättigungen
der vier etwa gleichgroßen Figuren Rückschlüsse auf
die Vorlage zulassen - nur drei der Figuren kommen auf derselben Seite
vor
-, sorgen ihre in sich verschlungenen Posen dafür, daß sie
im gemalten Bild dem Titel getreu als eine einzige unzertrennliche
Figurengruppe auftreten. In anderen Bildern annulliert Peter Holl diesen
Kontrastunterscheid.
So zeigen die Torsionen von "Fama" (2002) gewissermaßen
eine Schnittmenge. Farbflächen, die der Vorder- und Rückseite
gemeinsam sind, treten in der Durchleuchtung stark hervor, während
alles andere in der Tiefe des Bildraums verschwindet. In weiteren Bildern,
etwa "Asche" (2002), erscheint ein zarter Hintergrund, der
weder auf der Vorder- noch der Rückseite der Vorlage zu sehen
ist und vage mit den feinen Nuancen von Transparenz assoziiert sein
mag,
die das Hochglanzpapier im Lichtkegel der Projektionslampe preisgibt.
Man könnte Peter Holls Vorgehensweise hier mit der Technik des
Fotografen vergleichen, der seine absichtlich unterbelichteten Filme
im besonders
konzentrierten Entwicklungsbad "pusht". Wenn die Durchleuchtung
in analoger Weise intensiv wird, löst sich aus dem Zwischenraum
zwischen Vorder- und Rückmotiv der Vorlage eine bisher ungesehene
Bildschicht.
Welche grundsätzlichen Herausforderungen das Aquarell für den
Künstler bereithält, ist in Peter Holls Bildern offensichtlich.
Während Öl- oder Acrylfarben fast grenzenlos manipuliert werden
können, ist Aquarell nahezu inkorrigibel. Auch die raffinierteste
Gestik der Pinselführung kann im Aquarell keine perfekt scharfen
Konturen erzeugen. Auch die sorgfältigste Planung des Farbauftrags
kann Farbverläufe nicht präzise vorausbestimmen. Außerdem
dokumentiert das straffe Zeitreglement des Aquarells jedes Zögern
des Künstlers mit einer unvorhergesehenen Spur aus angetrocknetem
Pigment. Im Aquarell entgleitet der Malvorgang selbst der kontrollierenden
Hand des Künstlers. Neben dem Spiel mit Transparenz sind also Flüchtigkeit
und Zufälligkeit charakteristisch für diese Technik.
Im Unterschied zu anderen Pigmenttechniken - man denke an die vor einiger
Zeit wiederentdeckte Daguerrotypie - ist das Aquarell also nicht preziös
und nicht von sich aus auratisch. Im Aquarell erzeugt zerfließendes
Pigment auch bei größter Beherrschung des Mediums letztlich
keinen romantisierenden oder nostalgischen Weichzeichnereffekt, sondern
stets einen banalen Farbfleck. Offensichtlich, wie man an "Facing" (2000)
oder an "Millenium" (2000) sehen kann, steht dieses triviale
Moment des Aquarells im Widerspruch zu den glamourösen Motiven von
Peter Holls Bildern. Die Vorlagen, die er aus Lifestyle-Magazinen entnimmt,
sind in der Regel vollständig artifiziell, bis ins kleinste Detail
in Szene gesetzt und digital zur Ikone umgearbeitet. Eine die fotorealistische
Malerei seit ihren Anfängen begleitende Faszination mit kommerziellen
Techniken der Bildmodifikation und -stilisierung würde die Übertragung
solcher Vorlagen in manipulierbare Bildmedien wie Öl oder Acryl
geradezu aufdrängen. Peter Holls Bilder entziehen sich diesem Imperativ
aber durch grundsätzliche künstlerische Entscheidungen. So
forciert die Wahl des großformatigen Aquarells nicht nur die radikale
Künstlichkeit der durchleuchteten und mehrfach vergrößerten
Vorlage, sondern verstärkt zugleich auch die dem Aquarell eigenen
Trivialaspekte - Flecken, Überlappungen, Stufungen und Unschärfen,
die nicht intendiert sind aber mangels Korrekturmöglichkeiten auch
nicht retouchiert werden können. Die in der Durchleuchtung gesteigerte
Präsenz der Vorlagen geht Hand in Hand mit einer Entfaltung dieser
provisorischen Qualitäten des Bildmediums. Die radikal ästhetisierten
Motive der Bildvorlagen werden im Aquarell nicht nur in besonderer Weise
sichtbar gemacht sondern im Verein mit den Effekten der Durchleuchtung
immer auch depotenziert. Es will so scheinen, daß das Aquarell
jede affirmative Haltung zum Style der Vorlagen hintertreibt und bestenfalls
eine ambivalente Haltung zuläßt. Peter Holls Durchleuchtungen
sind Bilder nach Vorlagen aber keine Bilder nach Vorbildern im wörtlichen
Sinn. Sein optisch-malerisches Verfahren transponiert gefundene, vorästhetisierte
Motive in oft unwahrscheinliche oder surreale Arrangements. Wie vorhin
schon angeschnitten, übt dieses Verfahren genauso wie die Technik
des Aquarells gewisse Zwänge auf das endgültige Bild aus: die
geometrischen Affinitäten, motivischen Interferenzen und thematischen
Assoziationen über die Grenze der Magazinseite hinweg sind nicht
komponiert, sondern als erst in der Durchleuchtung sichtbares Ganzes
ausgewählt. Da die durchleuchteten Bilder kein Vorbild haben, wäre
es verkehrt, sie als images trouvés zu behandeln. Es handelt sich
bei ihnen vielmehr um den Vorlagen entlockte Motivkonstellationen. Diese
Konstellationen gehören allein dem gemalten Bild an [2]. Es bedarf
der Durchdringung von mindestens zwei statischen Posen, so daß vibrierende
und symbolisch aufgeladene Doppelgesten wie etwa in "Willkommen
und Abschied" (2000), "Kythera" (2002) oder "Nordostsüdwest" (2002)
in den Blick geraten können. Im letztgenannten Bild ist die Konstellation
sogar als Sternhimmel präsent, wenn auch in ihrer tapezierten
Schwundform.
Indem die Grenzen von Figuren in der Durchleuchtung immer gegeneinander
verschoben werden - spielerisch in "Willkommen und Abschied",
subtil in "Update" (2002), konzentriert in "Borderline" (2001)
oder expressiv in "Nordostsüdwest" (2002) - verliert das
Auge allerdings seinen gewohnten Halt an vertrauten Konturen. Diese Bilder
scheinen als Ganze von einer Unruhe, einem Oszillieren erfaßt,
für das die verwischten Grenzen der Motive nur oberflächliches
Symptom ist. Schließlich hat Peter Holl seine optische Prozedur
nicht als Kunstgriff entwickelt, mit dessen Hilfe Vorder- und Rückseite
seiner Vorlagen geschickt auf einen gemeinsamen Bildträger transponiert
und mit verblüffendem Effekt verschränkt werden. Schon die
Anfänge dieses Verfahrens in seinen Versuchen, das Leuchten einer
Lichtquelle einzufangen, verbieten diese vorschnelle Deutung. Die Pointe
der durchleuchteten Bilder ist nicht mit ihrem unbestreitbaren optischen
Reiz erschöpft, wie ich meine. Die Konstellation der Figuren und
Motive, die sich im Aquarell - und nur in ihm - verfestigt, hat als
Ganze keinen eindeutigen Fluchtpunkt, keine eindeutige Grenze, aber
auch kein
eindeutiges Thema und damit keinen eindeutigen Zugang mehr, obwohl
oder gerade weil Figuren und Motive auch in ihrer Kombination den Anschein
des Vertrauten erwecken. Peter Holl radikalisiert die in seinem malerischen
Verfahren angelegte Ambivalenz in jedem seiner Bilder als kunstvolle
Irritation des Sehens selbst.
Ich möchte diese Reizung kurz an drei Bildern erläutern. "Wurzeln", "Fin
de siècle" und "Kythera" (alle 2002) sind Doppelportraits.
Zusammengehalten werden die überlagerten Gesichter von der Klammer
ihrer ineinander verwobenen Haare. Bemerkenswert ist zunächst die
Meisterschaft mit der die einzelnen Strähnen und Locken ausgeführt
und Glanzlichter gesetzt sind. Die verflochtenen Haare treten ungewöhnlich
plastisch hervor. Wo sich die Vorlagen nicht überdecken, umspielen
Schleier und Schlieren die gemeinsame Frisur. Der Blick verfängt
sich in ihrem unentwirrbaren Netz und wird aus diesem ungewöhnlichen
Fluchtpunkt auf die Doppelwesen im Bild gelenkt. Auch wenn der auffällig
rote Mund in "Kythera" oder die klaren schwarz-roten Umrisse
der Schläfen und Ohren in "Fin de siècle" weitere
eindeutige Anhaltspunkte suggerieren, entspricht der einen Frisur nicht
etwa ein Gesicht, das man scharfstellen könnte. Diese Bilder zwingen,
ohne Fokus zu sehen. Darin besteht ihr irritierendes Moment. Nur so,
außerhalb intuitiver Sehweisen, erfaßt man zum Beispiel das
streng-versöhnliche Doppelprofil in "Wurzeln" als Gegenstand
eines einzigen Portraits.
Die überlebensgroßen Gesichter von "Update" und "Antifa" (beide
2002) gestatten einige Vermutungen über die mögliche Stoßrichtung
dieser Irritation. Der spannungsvolle Gestus ist in diesen Portraits
gegenüber "Wurzeln", "Fin de siècle" und "Kythera" stark
zurück-genommen. Besonders in "Update" sind überblendete
Kopfhaltungen und Gesichtsformen nahezu identisch, so daß man
auf den ersten flüchtigen Blick ein gewöhnliches Portrait
sieht. In beiden Bildern sind die Gesichter im Zentrum des Bildes angeordnet
und frontal zum Betrachter orientiert. Indem man das bildnerische Verfahren
zurückverfolgt, durch das diese Bilder erzeugt worden sind, kann
man grob rekonstruieren, daß auf den Vorlagen sorgfältig
gestylte, aufwendig beleuchtete Models in die Linse einer Kamera schauen.
Es ist
industrieüblich, die Fotografien für den Druck mit herkömmlichen
und digitalen Mitteln nachzubearbeiten und optisch zu glätten.
In gewisser Weise neutralisiert die Repräsentation von "Style",
als komplexer Prozeß im eben skizzierten Sinne verstanden, die
Individualität der Gesichter. Peter Holls malerisches Verfahren,
behaupte ich, kann am Beispiel von "Update" und "Antifa" so
interpretiert werden, daß es diesen Prozeß "Style" konterkariert.
Das soll keinesfalls heißen, daß es "Style" rückgängig
macht. Diesen Gesichtern wird in der Durchleuchtung keine Maske vom
Gesicht gerissen - auch das hinter ihnen vermutete authentische Gesicht
kann
leicht zum Träger einer Style-Botschaft umgemünzt werden,
wie Specsavers- oder Bennetton-Kampagnen belegen und wie kritische
Leser
von Naomi Kleins "No Logo" verstehen. Wahrscheinlich ist
Peter Holls Aquarellen der Pathos einer entlarvenden Geste ohnehin
fremd.
Festzuhalten ist: in der ins Medium des Aquarells übertragenen Durchleuchtung
des "Styles" wird kein Menschenbild sichtbar. Es kann auch
nicht sichtbar werden, denn weder zwei Augen noch Nase noch Mund, das
also, was ein Gesicht ausmacht, lassen sich in "Antifa" und "Update" eindeutig
fokussieren. Stattdessen erscheint ein fabelhaftes Portrait. "Antifa" ist
eine Bildkonstellation, deren dominante Elemente ein mysteriöser
Haarschnitt, geheimnisvoll geschürzte und geöffnete Lippen,
zwei magische Augen sind. "Update" irritiert den Betrachter
mit einem kühlen, fast hypnotischen Blick aus vier ganz leicht gegeneinander
versetzten, ein wenig verschleierten Augen. Diese Herausforderung an
das Sehen wird von dem in vibrierenden Pinktönen ruhenden Mund unterstrichen.
Peter Holls Aquarelle verleihen den anonymisierten Gesichtern aus der
Fotostrecke des Lifestyle-Magazins etwas Personenhaftes, ohne daß diese
Gesichter Individualität, wie wir sie landläufig zu kennen
glauben, zurückgewinnen würden. Denn diese Individuen sind
trotz ihrer imposanten Präsenz distanziert und abstrakt. Mangels
besserer Begriffe könnte man von Fabelwesen sprechen, die in Portraits
wie "Antifa" oder "Update" in den Blick treten.
Manches deutet darauf hin, daß Peter Holl dieses Fabelhafte zu
einem ganzen Thema entwickelt. Denn die meisten seiner Aquarelle sind
als Serien konzipiert. Zum einen kann dieses konzeptionelle Element
als eine Replik auf die Fotostrecken verstanden werden, die "Style" transportieren.
Zum anderen werden diese Fotostrecken in einen poetischen Zusammenhang
uminszeniert. Das ist in der Serie "Asche", "Nordostsüdwest", "Scarlet
Lake", "Unter Null" (alle 2002) abzulesen, die den Blick
zunächst durch strenge Symmetrie bannt. Alle vier in sich multiplizierten
Figuren verharren in einer streng axialen Pose. Sie sind frontal ausgerichtet
und betonen die Vertikale des Bildes. Die im Bild selbst erscheinenden
Bildertitel der "Asche"-Serie verhalten sich assoziativ zu
dem, was im Bild sichtbar ist. Auch die Referenz zu Bret Easton Ellis'
berühmten Roman "Below Zero" hat sich wohl eher in Anlehnung
an die unterkühlte Bildkonstellation und die androgyne Figur nahegelegt
als umgekehrt. Die anderen Titel halten eine ins Verwunschene ("Asche")
oder auch wieder Magische einer Konstellation ("Nordostsüdwest")
driftende Szenerie fest. Es gibt in dieser Serie ein komplexes Spiel
von Relationen zwischen Titel, durchleuchteter Figur und fiktivem Hintergrund.
Solche Relationen spielen aber auch zwischen den verschiedenen Bildern
der Serie. Vielleicht hat der Protokollant und Interpret der wie Erinnerungsfotografien
wirkenden Szenen (besonders "Scarlet Lake") all diese fabelhaften
Orte bereist, so daß die Serie eine ganze Geschichte ins Gedächtnis
rufen soll. Vielleicht rücken mit einem Kunstgriff des Sehens
alle vier Bilder zu einem Gruppenbild, einer anderen Episode, zusammen.
Man
könnte Peter Holls Serialisierung von dem "Style" entlockten
Kreaturen, die immer auch Kontexte schafft, als eine fabulierende Tendenz
interpretieren. Diese Tendenz setzt sich wohl auch in der aktuellsten
Serie fort, die nicht mehr auf durchleuchteten Vorlagen beruht: "Echo", "Weißer
Saal", "Palladio", "Ratzeburg", und "Pellegrini" (alle
2003) ... Ich möchte schließlich auf den in der Einleitung
entwickelten Gedanken zurückkommen: Vexierbilder haben zwei Aspekte,
in die sie unwiderruflich zerfallen, sobald man sie eindeutig entziffert
hat. In Peter Holls Bildern entziehen sich die protokollierten und
interpretierten Einzelbilder der Vorlagen dem Versuch, sie scharf in
den Blick zu bekommen.
Diese Wirkung wurde als die Irritation eines Sehens beschrieben, das
an den Verschiebungen, Überlappungen, Torsionen der Motive abgleitet.
Peter Holls Aquarelle entziehen sich also dem intuitiven Versuch, sie
auseinanderzudividieren. Gleichzeitig reizt diese Irritation zum Weitersehen
in der einzigen Dimension, in der die Fabelwesen "Antifa" und "Update" oder
die Fiktionen der "Asche"-Serie sichtbar werden. In diesem
Sinne werden die vermeintlichen optischen Täuschungen oder Rätsel
in Peter Holls Malerei robust. Sie im perspektivischen Blick in Aspekte
zu zerlegen, wäre ein regelrechter Sehfehler. Ihren Vorlagen als
möglichen Schlüsseln zum Geheimnis dieser Bilder nachzustellen,
würde das Bezaubernde dieser Bilder austreiben. Unter dem Blick
des Forschers verschwindet der Wald hinter all den Bäumen. Vielleicht
brauchen wir alle erst einmal eine neue Brille. Erst dann werden wir
wieder so konzentriert sehen können wie das kleine Mädchen
auf dem Bild "Peter Holl". London, November 2003.
- Ich schließe hier direkt an die scharfsinnigen Beobachtungen
und Erläuterungen von Martin Saar in "So nah auseinander" an
(Eröffnungsvortrag etc.) ...
- Zum Begriff der Konstellation
in Bezug auf Peter Holl vgl. "So
nah auseinander" ...
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